Koker hitchhiking

„Der Film beginnt mit D.W. Griffith und endet mit Abbas Kiarostami.“ Dieses Zitat, das Jean-Luc Godard zugeschrieben wird, verdeutlicht den filmhistorischen Stellenwert des iranischen Drehbuchautors und Regisseurs Abbas Kiarostami. Aktuell widmen das Berliner Kino Arsenal und der Streaming-Dienst LaCinethek ihm eine Retrospektive. Anlass für ein Porträt eines filmischen Werks, das kongenial die Interaktion zwischen Kino und Leben auslotet.

Woran erkennt man, dass Leute im Kino sitzen? Daran, dass ihre Gesichter mal heller, mal dunkler beleuchtet sind. Kino ist ein Lichtereignis, aber kein gleichmäßiges. Als zeitbasierte Bewegungskunst beruht es, materialistisch gesprochen, auf einer dynamischen Abfolge von Intensitätsgraduierungen von Licht. Licht, das zu Bildern gerinnt, das Formen sichtbar werden lässt, das womöglich auch eine Geschichte erzählt. Aber das eben auch, als Lichtquelle, seine Umgebung illuminiert. Und insbesondere diejenigen sichtbar werden lässt und in ein visuelles Spektakel verwandelt, die im Kino sitzen und sich einen Film anschauen. Auf sie ist das Licht des Kinos ausgerichtet.

Das Kino ist, so gesehen, eben gerade keine „black box“, sondern eine Maschine der doppelten Sichtbarmachung: der Bilder auf der Leinwand, aber auch des Zuschauersaals. Um das zu erkennen, bedarf es einer Blickumkehr, die Abbas Kiarostamis Spätwerk „Shirin“ (1998) leistet. Die Bilder des Films zeigen, von Vor- und Abspann abgesehen, ausschließlich Großaufnahmen von Frauen, die im Kino sitzen und sich einen Film anschauen. Das mal stabile, intensive, mal schummrige, mal wild flackernde Licht, das diese Gesichter für uns sichtbar werden lässt, ist das Licht des Kinos. Wenn wir „Shirin“ im Kino sehen, dann werden wiederum wir beleuchtet, vom Widerschein des Films auf den Gesichtern der Frauen. Jedes einzelne Gesicht wird zu einem eigenen Reflektor, aber auch zu einer eigenen Lichtquelle, mit einer eigenen, höchstpersönlichen Intensität, Dynamik und Dramaturgie.

Das Licht des Kinos pflanzt sich fort

Das Licht des Kinos pflanzt sich fort, es multipliziert sich, bricht sich, differenziert sich aus… aber was ist sein Ursprung? „Shirin“ legt nahe: Sein Ursprung ist die Fiktion, und zwar gleich im doppelten Sinne. Zum einen im Sinne von Fiktion als Erzählung: Wir sehen in Kiarostamis Film zwar nicht, was die Frauen sehen, aber wir hören, was sie hören: Dialoge, Musik und Geräusche, die Tonspur eines Films, aus der sich eine einigermaßen kohärente Narration rekonstruieren lässt, die offensichtlich auf „Chosrau und Schirin“ basiert, einer Liebesgeschichte, die zu den Klassikern der persischen Literatur gehört. Zum andern im Sinne von Fiktion als Erfindung: Zwar existieren mehrere Verfilmungen von „Chosrau und Schirin“ – die Version, die sich die Frauen bei Kiarostami ansehen, wurde hingegen nie gedreht und also auch nie tatsächlich in einem Kino vorgeführt. Die Tonspur ist reine, bildlose Fabrikation, von Kiarostami mit Sprecher:innen im Soundstudio erstellt.

Abbas Kiarostami (© Laurent Thurin Nal)

Abbas Kiarostami (© Laurent Thurin Nal)

Das Licht des Kinos als eine materielle Evidenz, die auf keinerlei Substanz verweist, der Blick der Zuschauerin als eine suggestive Illumination, die keine Verwurzelung, keine Entsprechung in der physikalischen Wirklichkeit hat. Unter den vielen Reflexionen aufs Kino, auf sein Verhältnis zur Welt wie auch zu den Zuschauer:innen, die Kiarostamis Filme ausarbeiten, ist „Shirin“ eine der komplexesten und auch skeptischsten. Sie ist Teil der letzten Werkphase eines Regisseurs, der sein eigenes Verhältnis zum künstlerischen Medium seiner Wahl immer wieder neu austarierte.

Filme der Jugend

Vermutlich sollte man besser sagen: zu den künstlerischen Medien seiner Wahl. Abbas Kiarostami war nicht nur Filmemacher, sondern auch Dichter, Maler und Fotograf – zum Kino findet er über Umwege, seine ersten filmischen Arbeiten sind in den 1960er-Jahren Fernsehwerbespots. Die entscheidende Prägung jedoch erfolgt auf dem Feld der Volksbildung: Ab 1970 dreht er, gemeinsam mit einer Reihe weiterer junger, ambitionierter Filmemacher, für das staatliche Institute for Intellectual Development of Children and Young Adults eine Reihe von mehrheitlich kurzen und mittellangen Filmen.

Kindheit und Erziehungssystem: Das sind nicht einfach nur die Themen von Kiarostamis frühen Filmen. Vielmehr lotet der Regisseur fast schon systematisch die Möglichkeiten und Grenzen des Kinos als eines Mediums der Pädagogik aus. Einige Frühwerke sind klassische Lehrfilme, gewissermaßen das iranische Gegenstück zur „Sendung mit der Maus“. Im Fünfminüter „So Can I“ (1975) lernen Kinder, welche Tiere sie nachmachen können: Erst kriecht eine Zeichentrickraupe über die Leinwand, dann kriecht ein Kind über eine Wiese. Erst gräbt eine Zeichentrickmaus ein Loch, dann buddelt ein Kind in der Erde. Ein Zeichentrickpferd galoppiert, ein Kind rennt, ein Zeichentrickfisch schwimmt, ein Kind ebenso. Aber was ist mit dem Zeichentrickvogel, der über die Leinwand fliegt? Hier lernen die Kinder, dass es auch Tiere gibt, die sie nicht nachmachen können: statt auf ein fliegendes Kind schneidet Kiarostami auf ein Flugzeug. Schon das ist eine kleine Theorie des Kinos: Technik als Hilfsmittel, das einerseits einem mimetischen Impuls, andererseits der Beschränktheit des menschlichen Körpers entspringt.

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Die Filme für das Institut sind vielfältig. Es gibt Alltagsminiaturen im realistischen, beobachtenden Stil wie „Recess“ (1972), in dem ein Schüler auf dem Nachhauseweg einen Ball in eine Fensterscheibe schießt, daraufhin das Weite sucht und seine Heimatstadt plötzlich mit neuen Augen sieht. Es gibt stärker szenisch ausgearbeitete Projekte wie „A Wedding Suit“ (1976), womöglich der schönste Film im Frühwerk, in dem die Machtspiele und Eifersüchteleien einer Gruppe Heranwachsender im Streit um eine Anzugjacke kulminieren – in Hitchcock’scher Manier verwandelt Kiarostami das Kleidungsstück in ein kinematografisches Objekt par excellence, das nie zum Stillstand kommt und ständig neue Bedeutungen generiert. Und es gibt didaktische, formalistische Versuchsanordnungen wie „First Graders“ (1984), der von wenigen Ausnahmen abgesehen nur in zwei Räumen spielt: Zum einen auf dem Schulhof, wo die Schüler in mehreren Kolonnen aufgereiht zum Morgenappell antreten. Zum anderen in einem Lehrerzimmer, in das Schüler gerufen werden, die sich der einen oder anderen Verfehlung schuldig gemacht haben. Sie treten dann einzeln nach vorne, vor die Kamera und vor einen Erzieher, der im Gespräch mit ihnen die Schwere der Schuld ermisst und das Strafmaß bestimmt. Ein minimalistisches Lehrstück über Formbarkeit und die Gewalt, die Sprache immer notwendigerweise ausübt.

Kino ist keine Schule

Auffällig ist, dass der Unterricht selbst in fast allen Filmen, die Kiarostami für das Institut dreht, eine Leerstelle bleibt. Nicht die konkrete Wissensvermittlung steht im Zentrum, sondern deren institutionelle und soziale Rahmung, nicht das Klassenzimmer, sondern der Schulhof und der Nachhauseweg, nicht die Schulstunden, sondern die Zeit davor, danach und dazwischen. Das Kino Kiarostamis macht sich nicht mit seinem Sujet gleich, es ist keine Schule (auch keine „des Sehens“), kein Werkzeug der Wissensvermittlung. Selbst da noch, wo es der Form nach pädagogische Interessen verfolgt, zielt es nicht auf die Substanz, sondern auf die Bedingungen von Lehrinhalten.

Vielleicht ist das auch ein Grund dafür, dass die entscheidende Zäsur in der jüngeren Geschichte von Kiarostamis Heimatland, die iranische Revolution des Jahres 1979, in seiner Filmografie zwar Spuren vielerlei Art hinterlässt, aber nicht im selben Maße zu einem Scheidepunkt wird. 1977, kurz vor der Revolution, dreht der Regisseur mit dem Ehedrama „The Report“ zum ersten Mal einen Spielfilm „für Erwachsene“; nicht sein bester Film, aber einer, der einen faszinierenden Einblick in den städtisch-liberalen Iran der 1970er-Jahre ermöglicht. Nach dem Umbruch jedoch konzentriert er sich erst einmal wieder auf seine Arbeit am Institut, das die Revolutionszeit übersteht (und bis heute existiert). Ein Film entsteht direkt während der Revolution: „First Case, Second Case“ (1979) analysiert die Reaktion einer Gruppe von Schülern auf die unverhältnismäßige Strafaktion eines Lehrers: Soll ein Junge einen Mitschüler verraten, um selber einer Kollektivstrafe zu entgehen, oder soll er mit dem Schuldigen und der Klassengemeinschaft solidarisch bleiben? Kiarostami verwandelt seinen Film in ein öffentliches Forum, in dem sich Experten, Künstler und Politiker zu dem fiktiven Fall äußern.

In politischer Hinsicht ist „First Case, Second Case“ ambivalent, fast schon naiv sogar, wenn man aus der überlegenen Perspektive der Gegenwart urteilt (was man definitiv nicht tun sollte). Kiarostami legt ihn, das macht eine äußerst effektive agitatorische Schlusspointe deutlich, als seinen Beitrag zu einer gesellschaftlichen Umwälzung an. Aber offensichtlich zu einer, die mit der, die sich ab 1979 im Iran faktisch vollzieht, kaum etwas zu tun hat. Die klerikal-totalitäre Wendung, die die Revolution bereits sehr früh nimmt, bleibt außerhalb der epistemologischen Reichweite des Films. Doch wo „First Case, Second Case“ die empirische Wirklichkeit verfehlt, schafft er eine eigene und wird zur Fantasie jenes pluralistischen demokratischen Diskursraums, um den der Iran von der Realgeschichte betrogen wurde.

Aufs Land

Nach einer Reihe dokumentarischer Arbeiten entsteht 1987 wieder ein Spielfilm. „Wo ist das Haus meines Freundes?“ ist ein Schlüsselfilm im Werk: Gleichzeitig die Summe aus den Arbeiten für das Institute for Intellectual Development of Children and Young Adults und der Beginn von etwas Neuem. Schon der Schauplatz des Films weist den Weg: Das Frühwerk des in Teheran geborenen und aufgewachsenen, später teilweise in Paris lebenden, mithin durch und durch großstädtisch geprägten Kiarostami ist ebenfalls fast durchweg ein urbanes Kino; nun jedoch wendet er sich dem iranischen Dorfleben zu, und auch der trockenen, geschwungenen Schönheit der iranischen Landschaft.

“Wo ist das Haus meines Freundes?” (© Kanoon)

“Wo ist das Haus meines Freundes?” (© Kanoon)

Koker heißt das Dorf, in dem er „Wo ist das Haus meines Freundes?“ und danach noch zwei weitere Filme dreht. Auf Google Maps ist kaum Bildmaterial zu dem Ort zu finden, aber per Suchmaschine lässt sich ein Blogeintrag aus dem Jahr 2020 finden, der die Reise einer Gruppe von Anhaltern zu den Drehorten der Koker-Trilogie beschreibt. Viele der Häuser, die in den Filmen auftauchen, sind nur noch Ruinen – die Gegend wurde 1990 von einem schweren Erdbeben verwüstet, das den Ausgangspunkt für den zweiten Film der Reihe, „Und das Leben geht weiter“ (1992), bildet. Auch der ikonische Zickzackweg einen Hügel hinauf aus „Wo ist das Haus meines Freundes?“ ist inzwischen weitgehend überwachsen; aber noch ist sein Verlauf zu erahnen, als eine Spur, von der man meint, das Kino selbst habe sie in die Welt eingetragen.

Die Verschränkung und wechselseitige Bedingtheit von Kino und Leben ist oft und zurecht als ein zentrales Thema von Kiarostamis bekanntester Werkphase identifiziert worden. Die sieben Spielfilme, die der Regisseur zwischen 1987 und 2002 dreht und die nicht nur sein eigenes Werk, sondern auch das iranische Kino insgesamt im Bewusstsein der internationalen Filmkritik und des Arthousekino-Publikums verankern, können als Versuchsanordnungen beschrieben werden, in denen sich Kino und Welt, der kinematographische Blick und sein Objekt, weder als unversöhnliche Gegensätze gegenüberstehen, noch zu einer immersiven Einheit verschmelzen; sondern in ein wechselseitiges Beobachtungsverhältnis versetzt werden, dessen ästhetische und ethische Implikationen nirgendwo klarsichtiger aufgefaltet werden als in dem auf einer wahren Begebenheit beruhenden „Close-up“ (1989), in dem ein Filmfan die Identität seines Lieblingsregisseurs Mohsen Makhmalbaf annimmt und bei einer reichen Familie um Unterstützung für ein Filmprojekt bittet.

“Wo ist das Haus meines Freundes?” (© Kanoon)

“Wo ist das Haus meines Freundes?” (© Kanoon)

Die Dualität von Freiheit und Kontrolle

„Close-up“ ist jedoch nicht nur ein Klassiker des selbstreflexiven Kinos (eine weitere, vielleicht die zentrale Pointe des Films besteht darin, dass alle Beteiligten sich selbst spielen), sondern verweist auch auf eine andere, womöglich tieferliegende Dualität in Kiarostamis Werk: die Dualität von Freiheit und Kontrolle. Die Literatur zu Kiarostami, insbesondere die westliche Filmkritik, die den Regisseur zumeist als einen Humanisten in der Tradition des italienischen Neorealismus beschreibt, stellt im Allgemeinen den ersten Aspekt in den Vordergrund: Die dokumentarische Überformung der Spielfilmkonvention, die Arbeit mit Originalschauplätzen und Laiendarsteller:innen, die Rolle des Zufalls in der Arbeitsweise des Iraners. All das, was der Philosoph Jean-Luc Nancy die Evidenz im Kino Kiarostamis nennt: Die Filme erzählen weder Geschichten, noch bilden sie einfach nur ab, was ist, vielmehr produzieren sie eine Serie von Singularitäten, die die Welt im Moment der Aufnahme in Bilder eines unmittelbar evidenten Denkens verwandeln. Etwa, wenn in „Close-up“ ein Polizist gegen eine auf der Straße liegende Dose tritt und die Kamera per Schwenk nachvollzieht, wie das Zufallsobjekt einen Hügel hinabrollt.

Aber gleichzeitig geht es in demselben Film um einen Menschen, der sich selbst gefangen nimmt, der in eine Falle tappt, die er sich selbst gestellt hat; und Kiarostamis Film ist mit dem Mechanismus dieser Falle genauso solidarisch wie mit den „dokumentarischen“ Evidenzen. Besonders deutlich wird das in einer dramaturgischen Dopplung: Die Enttarnung und Verhaftung des gefälschten Makhmalbaf wird zweimal gezeigt, aus zwei unterschiedlichen Perspektiven, zuerst aus der der Polizei, am Ende aus der des Verhafteten. Ein Puzzleteil greift ins andere, der offene Blick des Films umschließt den Protagonisten letztlich genauso hermetisch wie jede Hollywooddramaturgie.

Ein Regisseur, das ist jemand, der immer schon an die nächste Einstellung denkt

Es geht dabei um den ewigen Gegensatz von Dokumentar- und Spielfilm, könnte man meinen. Aber so ganz geht diese Gegenüberstellung nicht auf. Das kontrollierende, fixierende Element von Kiarostamis Filmen tritt in den weniger narrativ geprägten späteren Filmen nur noch deutlicher hervor. Der Filmemacher, der in „Und das Leben geht weiter“ durch die vom Erdbeben verwüstete Gegend um Koker fährt, wird in eine Serie von Zufallsbegegnungen verwickelt, die aus ihrem Leben gerissenen Menschen und die verwüstete Landschaft affizieren den Film direkt, in jedem einzelnen Bild; aber gleichzeitig hat der Regisseur es sich zur Aufgabe gesetzt, die Hauptfigur aus einem anderen Film, aus „Wo ist das Haus meines Freundes?“, wiederzufinden. Von diesem Plan lässt er sich nicht abbringen, unerbittlich strebt er seinem Ziel entgegen und verwandelt dadurch alle Evidenzen in Episoden, in Mittel zum Zweck. In Abwesenheit einer klassischen Dramaturgie konturiert sich eine kalte Wahrheit des Filmischen nur umso unerbittlicher: Ein Regisseur, das ist jemand, der immer schon an die nächste Einstellung denkt.

“Und das Leben geht weiter” (© Kanoon Films)

“Und das Leben geht weiter” (© Kanoon Films)

Das zentrale Motiv und Werkzeug dieser zweiten großen Werkphase ist das Auto: eine Miniaturwelt, die Blick und Bewegung, Fixierung (per Anschnallgurt) und Freiheit immer schon in eins setzt. In „10 on Ten“ (2004), Kiarostamis filmischer Reflexion auf die eigene Methode, setzt er sich selbst ans Steuer und führt unter anderem aus, dass die Konzentration, die das Autofahren insbesondere dem Fahrer/der Fahrerin, aber unwillkürlich auch allen Passagieren abverlangt, einen natürlichen, ungekünstelten Schauspielstil begünstigt.

In Fahrt

Einige der Filme sind fast identisch mit einer Serie von Autofahrten. So auch Kiarostamis größter internationaler Erfolg „Der Geschmack der Kirsche“ (1997), der beide Pole seines Kinos zum Extrem treibt. Die Fahrt, die Passage eines Mannes mittleren Alters in einem weißen Kombi über staubige Landstraßen, läuft in diesem Fall fast in Echtzeit ab. Weitgehend wahllos bittet der Fahrer Menschen, die er am Wegrand stehen sieht, ihn auf seinem Weg zu begleiten, überantwortet sich und mithin den Film komplett der spontanen Emergenz der Zufallsbegegnung. Ziel der Unternehmung jedoch ist nicht länger ein geografisch bestimmbarer Ort, sondern die ultimative Finalität: der Tod, der Freitod genauer gesagt, für dessen Durchführung der Protagonist einen Helfer sucht. Als nicht mehr hinterfragbare Struktur bildet der Tod den stabilen, tatsächlich stahlharten Hintergrund jeder einzelnen Einstellung.

Der Nachfolgefilm ist gewissermaßen die strukturelle Umkehrung: der Tod, den „Der Geschmack der Kirsche“ aktiv herbeiführen möchte, wird in „Der Wind wird uns tragen“ (1999) passiv erwartet; er tritt jedoch nicht ein. In einem der schönsten Filme Kiarostamis unternimmt ein Journalist unter falschem Vorwand eine Reise in ein abgelegenes Dorf, um eine Totenfeier zu dokumentieren. Die alte Frau, die betrauert werden soll, macht jedoch keine Anstalten zu sterben, und so bleibt dem Eindringling nichts anderes übrig, als sich in den ländlichen Alltag einzufügen – als ein Fremdkörper, dessen Präsenz ein raffiniertes, oft hochgradig komisches Spiel von Anwesenheit und Abwesenheit, Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, Reden und Schweigen in Gang setzt. Ein Film, der von Mikro- anstatt von Makrostrukturen bestimmt wird und dessen deutlicher Fokus auf Frauenfiguren (der Journalist verwickelt sich unter anderem in eine Serie halbherziger Flirts) bereits auf die neue Richtung verweist, die Kiarostamis Werk im Anschluss einschlägt.

“Der Wind wird uns tragen” (© MK2)

“Der Wind wird uns tragen” (© MK2)

Filme der Exterritorialität

Wenn „Wo ist das Haus meines Freundes?“ der erste Schlüsselfilm ist, dann ist „Ten“ (2002) der zweite. Ein Glücksfall des Kinos, das mit minimalistischer Konsequenz die Serie der Autofilme abschließt und in derselben Bewegung die letzte, opakste und experimentellste Werkphase einläutet. Kiarostami kehrt in die Stadt zurück und setzt diesmal nicht einen Mann, sondern eine Frau hinters Steuer: eine geschiedene Frau aus der oberen Mittelschicht, die im Lauf des Films in ihrem Auto neun Gespräche führt. Auch auf dem Beifahrersitz nehmen ausschließlich Frauen Platz – und allerdings auch, gleich mehrmals, der Sohn der Fahrerin, der sich als eines der unerträglichsten Kinder der Filmgeschichte entpuppt. Alle Übel des Patriarchats in einem einzigen impertinenten, selbstsüchtigen Grundschüler zu vereinen: Das ist einer von vielen genialen Schachzügen des Films.

Anders als in den vorherigen Autofilmen verlässt die Kamera den Wagen gar nicht mehr. Das hängt auch mit einem Wandel in der Filmtechnik zusammen. Kiarostami hatte bereits zuvor den sehenswerten Dokumentarfilm „ABC Africa“ (2001) mit einer handelsüblichen kleinen Digitalkamera gedreht und setzt diese nun auch in einem Spielfilm ein. In „10 on Ten“ schwärmt er von den Freiheiten, die die neue Technik ermöglicht und die sich freilich – das ist wieder eine jener produktiven Paradoxien, die das gesamte Werk des Regisseurs prägen – als Selbstbeschränkung artikulieren. Im Kern besteht „Ten“ aus einer einzigen, spielfilmlangen Schuss-Gegenschuss-Sequenz, die Kamera ist auf dem Armaturenbrett installiert und filmt abwechselnd, in höchstens minimalen Variationen, die Fahrerin und ihren Beifahrer/ihre Beifahrerin.

In der Tat rückt „Ten“ das gesamte Werk in ein neues Licht. Es fällt dann in der Rückschau auf, dass in Kiarostamis Kinderfilmen, auch schon vor 1979, immer nur Jungen auftauchen, nie oder höchstens ganz am Rand Mädchen. Auch in den Autofilmen vor „Ten“ steht stets außer Frage, dass der Fahrer ein Mann ist und sein muss, als Platzhalter für den Regisseur, aber auch als ein unabhängiger Agent, der selbstbestimmt eine ihm fremde Welt erkundet. Den Geschlechteraspekt in den Blick zu nehmen heißt nicht, Kiarostami des „male gaze“ zu verdächtigen; aber es zeigt, dass auch sein Kino nicht außerhalb jener Mechanismen iranischer Kulturproduktion existiert, die Tobias Ebbrecht als eine „Doppeladdressierung“ beschreibt: Filme, die in der westlichen Rezeption gerne als kritische Interventionen unabhängiger Künstler und damit als Beleg für diskursive Pluralität innerhalb der islamischen Republik Iran besprochen werden, können sich aus inneriranischer Perspektive durchaus als kompatibel mit der Staatsideologie erweisen.

“Ten” (© MK2)

“Ten” (© MK2)

Ein neuer Blick, der einen alten verunmöglicht

Auch „Ten“ ist kein Agitpropfilm, vielleicht noch nicht einmal im engeren Sinne dissidentes Kino. Die Konsequenzen, die aus ihm zu ziehen sind, sind, zumindest werkimmanent, nicht politisch, sondern ästhetisch: ein neuer Blick, der einen alten verunmöglicht. Wenn die Frauen im Auto offen ihre Frustration über ihre auch juristisch kodifizierte Unterordnung artikulieren, wenn eine von ihnen schließlich ihr Kopftuch ablegt und ihr fast kahlrasiertes Haupt der Kamera präsentiert, dann kündigt „Ten“ den impliziten Vertrag auf, den der Regisseur mit dem islamistischen Regime, mit dem er sich nie identifiziert hat, aber auch mit der iranischen Gesellschaftsordnung, deren Teil er selbstverständlich dennoch ist, geschlossen hatte.

Für ein Kino, das stets die eigenen Voraussetzungen vollumfänglich mitreflektiert, hat das schwere, existentielle Folgen: Im Spätwerk hat Kiarostamis Filmschaffen sowohl sein Thema verloren als auch seine Methode. Hinfort ist sein Kino weder eines der Kindheit, noch eines des Autos, sondern eines der Exterritorialität. Die Exterritorialität ist nicht bloß eine geographisch-kulturelle, sondern eine prinzipielle, im filmischen Blick als solchem verankerte und betrifft deshalb auch diejenigen späten Filme, wie etwa „Shirin“, die noch im Iran entstehen. Sie schlägt sich nieder in einer Tendenz zur Abstraktion, besonders deutlich in den formalistischen Plansequenzarbeiten wie „Five Dedicated to Ozu“ (2003) und „24 Frames“ (2017), der allerletzten, posthum veröffentlichten Regiearbeit: als Experimente faszinierend, aber auch ein wenig deprimierend darin, wie sie den filmischen Blick verabsolutieren. Im Ergebnis entstehen Bilder, die nicht mehr bewohnt werden können oder auch nur sollen.

“24 Frames” (© CG Cinéma)

“24 Frames” (© CG Cinéma)

Die letzten beiden Spielfilme wiederum realisiert Kiarostami außerhalb seines Heimatlandes, „Die Liebesfälscher“ (2010) als französisch-italienische Koproduktion, „Like Someone in Love“ (2012) in Japan. Zwei brillante Spätwerke, in denen der Regisseur noch einmal, mit spielerischer Leichtigkeit, die Abgründe der Metafiktion erkundet, mit Gilles Deleuze die Mächte des Falschen entfesselt; aber auch beides Zeugnisse eines Kinos, dessen Band zur Welt zerrissen ist. In „Die Liebesfälscher“ wird diese Welt zum bloßen Effekt eines Sprachspiels, das eine Frau und ein Mann miteinander spielen, in „Like Someone in Love“ verliert sie sich in einem Netz der Dopplungen und Spiegelungen. In der letzten Einstellung von „Like Someone in Love“ steht ein alter Mann in seiner Wohnung am Fenster und schaut vorsichtig nach draußen. Wir wollen sehen, was er sieht, und erwarten einen Schnitt auf seine Perspektive, aber stattdessen wirft jemand einen Stein durchs Fenster. Das Glas zerspringt – und alles, was bleibt, ist der Abspann.